![]() |
![]() ![]() |
Problemstellung | Krankheitsbild | Fallbeispiel | Situation in den USA | MCS Erklärungen | Auslöser, Diagnosen, Verbreitungsgrad | MCS Betroffene | Psychatrisierung MCS Kranker | Literatur |
Treten bei Schadstoffexposition Gesundheitsprobleme auf, reichen
Stärke und Dauer der Exposition aber nach heutiger Kenntnis nicht aus,
um die Störungen zu erklären, handelt es sich möglicherweise
um MCS (Multiple Chemical Sensitivity; Lohmann et al 1996, Maschewsky 1996).
Dieses Krankheitsbild wurde in den USA seit den 80er Jahren diskutiert, lange
Zeit kontrovers. Inzwischen ist es dort mehrheitlich akzeptiert. So macht z.B.
die Behörde für Kriegsheimkehrer MCS für schwere Gesundheitsprobleme
von über 1oo.ooo Golfkriegsveteranen ("Golfkriegs-Syndrom") ver-antwortlich
(Kang 1998).
MCS - also: Vielfache Chemikalienunverträglichkeit - ist ein neues Krankheitsbild mit folgenden Merkmalen (Cullen 1987): Symptome lassen sich vorhersagbar durch verschiedene Stoffe und/oder in Dosierungen auslösen, die von Toxikologen und Allergologen meist als unschädlich betrachtet werden. Die Symptome sind oft vielfältig, betreffen aber immer auch das Nervensystem. Der Schweregrad ist sehr unterschiedlich, kann von unauffälligen Befindlichkeitsstörungen bis zu lebensbedrohlichen "Totalallergien" reichen.
MCS kann Beschwerden in folgenden Bereichen zeigen (Lacour et al 1998):
Leitsymptome: Chemikaliensensibilisierung, Geruchsempfindlichkeit, Wahrnehmung übler Gerüche, Nahrungsmittelunverträglichkeit
Allgemeinsymptome: Müdigkeit, Leistungsminderung, Schlafstörungen
uncharakteristische zentralnervöse Beschwerden: Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen
neuropsychiatrische Störungen: depressive Verstimmung, Reizbarkeit, Entfremdungsgefühl
periphernervöse Beschwerden: Gefühlsstörungen
Atemwegsbeschwerden: Schleimhautreizungen von Nase und Mund, Luftröhren- und Lungenbeschwerden
Magen-Darm-Beschwerden: Sodbrennen, Übelkeit, Appetitmangel, Stuhlunregelmäßigkeiten
Herz-Kreislauf-Symptome: Herzrasen (Tachykardie)
Hautstörungen: verschiedene Hautveränderungen
rheumatologische Beschwerden: Gelenk- und Muskelschmerzen, Muskelschwäche.
Sozialarbeiterin, Ende 5o, erwerbsunfähig, zuvor Leiterin
einer ambulanten psychiatrischen Einrichtung der Kirche. Ihr gefiel die Arbeit;
belastend waren nur die Hektik und das ständige Rauchen der psychisch Kranken.
Bis zu ihrer Erkrankung war sie gesund.
Auslöser der Gesundheitsprobleme war ein unsachgemäßer Kammerjäger-Einsatz
am Arbeitsplatz mit Permethrin und, mehr als 100-fach überdosiert, einem
Carbamat. Sofort traten Augenbrennen, starke Sehstörungen, Husten, Übelkeit,
bleierne Glieder, Herzrasen, extreme Hauttrockenheit, Hautablösung von
Händen und Füßen, Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit
und Erschöpfung auf. Geblieben sind schnelle Ermüdung, geringe Belastbarkeit,
Muskelschmerzen, Migräne, Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen
und Stimmungsschwankungen.
Verschiedene Ärzte diagnostizierten ganz unterschiedliche Störungen:
vegetative Erschöpfung, Schlafmangel, "exotische Kontaktallergie",
Sehstörungen, "subjektive Beschwerden ohne Befund", Depression,
Anpassungsstörung, Menopausen-Syndrom, Bronchitis, Myopathie, Polyneuropathie
und MCS. Fast alle Ärzte ignorierten ihre Darstellung der Ursache. Mehrere
Monate nach Erkrankung wurde sie erwerbsunfähig.
Sie kämpft seit Jahren gegen die Berufsgenossenschaft um Anerkennung der
Erkrankung. Ein Umweltarzt und eine von ihr beauftragte Meßstelle konnten
noch mehrere Monate später die massive Insektizidbelastung am Arbeitsplatz
feststellen. Bevor ein amtlicher Gutachter dies überprüfen konnte,
ließ die Kirche kurzerhand die Räume sanieren.
MCS wird in den USA häufig diagnostiziert. Doch die Datenlage ist unbefriedigend. Forschung über Häufigkeit, Erscheinungsformen, Schweregrad und Verlauf von MCS wird seit langem gefordert, aber kaum gefördert. Daher haben Betroffene z.T. selbst mit dem Sammeln von Daten begonnen, etwa im US-Bundesstaat Washington (Maschewsky 1996). Interessant war dort neben der völlig unterschätzten Zahl der Betroffenen ihre starke Konzentration auf spezifische Arbeits- und Umweltbedingungen. So waren Häufungen von Fällen beobachtbar, z.B. beim Flugzeughersteller Boeing (über 2oo), Schülern/Lehrern mehrerer sanierter Schulen, Beschäftigten in mehreren Bürogebäuden, Anwohnern zweier Papierfabriken, Farmarbeitern nach Pestizideinsatz, Laborpersonal der Universität, Beschäftig-ten des Flughafens von Seattle.
MCS hat in den USA zu Kontroversen zwischen verschiedenen medizinischen Disziplinen geführt (Bell 1994, Maschewsky 1998, NRC 1992). Bezüglich der Erklärung von MCS gibt es vor allem zwei Positionen:
MCS als psychosomatische oder psychiatrische Störung, wie: Ökochondrie, Massenhysterie, Toxikopie, Depression, Zwangsneurose, Chemophobie, idiopathische Umweltintoleranz
MCS als arbeits- oder umweltbedingte Störung (mit möglicher genetischer
Beteiligung), wie: Vergiftung, Entgiftungsstörung, Fehlfunktion von Nerven-,
Immun-, Hormonsystem oder Atemwegen, Herabsetzung nervlicher Auslöseschwellen
für Mißempfindungen, Schmerzen und Fehlfunktionen.
Auslöser, Diagnosen,
Verbreitungsgrad
Chemische Auslöser von MCS sind u.a. Lösemittel,
Pestizide, bestimmte Metalle und ihre Legierungen, Verbrennungsprodukte und
andere Schadstoffgemische (Ashford/Miller 1998). Sie sind in der Arbeits- und
Umweltmedizin oft bekannt, etwa als allergisierend, krebserzeugend, nerven-
oder immuntoxisch.
MCS-Betroffene erhalten oft sehr unterschiedliche Diagnosen: Infektion, Allergie,
(Nerven-) Vergiftung, Immundefekt, hormonelle Fehlfunktion, Stoffwechselstörung,
Mangelerkrankung, genetische Störung. Häufig sind psychosomatische
und psychiatrische Diagnosen (Rosenbrock/Maschewsky 1998). Die Diagnose MCS
selbst wird bei uns nur in einer Minderheit von Fällen gestellt. Allerdings
ist eine Tendenz beobachtbar, die Anerkennung einer durch Lösemittel verursachten
beruflichen Nervenerkrankung dadurch zu umgehen, daß Betroffenen eine
MCS attestiert wird (Maschewsky 1999a).
Eine nennenswerte MCS-Forschung, die es erlaubt, die Krankheitshäufigkeit
abzuschätzen, gibt es in der BRD nicht. Eine Hochrechnung aus verschiedenen,
je einzeln unbefriedigenden, Datenquellen schätzt die Zahl mittel bis schwer
von MCS Betroffener auf etwa 54.ooo Personen in der BRD (Maschewsky 2ooo). Diese
Schätzung bewegt sich vermutlich an der Untergrenze der realen Betroffenenzahl.
Behördliche Schätzungen in den USA kommen auf viel höhere Zahlen
für chemisch-bedingte Gesundheitsstörungen (einschließlich Allergien
und Vergiftungen), nämlich ca. 16 % der US-Bevölkerung (ATSDR 1996,
Kreutzer et al 1999).
Nach Ashford/Miller (1998) sind vor allem vier Personengruppen von MCS betroffen:
Gruppe | Art der Exposition | Merkmale |
Industriearbeiter | akute oder chronische Exposition am Arbeitsplatz | Männer, meist Arbeiter, Alter 20 bis 65 Jahre |
Bewohner/ Nutzer "dichter" Gebäude | Ausgasen von Baumaterialien, Büromöbeln oder -materielien, Tabakrauch, schlechte Lüftung | eher Frauen, eher Angestellte, Alter 20 bis 65 Jahre, auch Schulkinder |
Personen in belasteten Gemeinden | (Sonder)Mülldeponien, Pestizid Versprühung aus der Luft, Grundwasser- und Luftverschmutzung durch nahegelegene Industrien oder sonstige Schadquellen | Alle Altersgruppen, Männer und Frauen, Säuglinge und Kinder oft zu erst betroffen; manchmal Schädigung der Embryonen bei Schwangeren; eher Mittel- und Unterschicht |
Einzelpersonen | u.a. Raumluft zu Hause, Verbrauchsgegenstände, Medikamente, Pestizide | 70 - 80% Frauen, zur Hälfte im Alter von 30 bis 50 Jahren; Mittel- bis Oberschicht, höherer Berufsstatus |
Eine BRD-Studie zum Zusammenhang von MCS und Beruf fand MCS-Betroffene stark überrepräsentiert in einigen gewerblichen Berufen mit hoher Schadstoffexposition, z.B. Laborpersonal, Drucker, Fußbodenleger, Maler/Lackierer. Zugleich zeigte sich, daß die auftretenden Symptome stark differieren und verschiedene Symptomtypen bilden (Maschewsky 1999b).
In der BRD werden diese Gesundheitsprobleme bevorzugt als psychosomatische
oder psychiatrische Störung interpretiert. Dadurch werden Arbeits- oder
Umweltfaktoren - z.B. Pestizide, Holzschutzmittel, Lösemittel, Amalgam
- als Ursache ausgeschlossen. Eine Anerkennung als Berufs- oder Umweltkrankheit
scheidet dann aus; Linderung wird von Psychotherapie und Psychopharmaka erwartet.
Betroffene werden von Ärzten und Kassen als "Problempatienten"
gesehen, erfahren auch von Angehörigen oft wenig Un-terstützung (Schiele/Eder-Stein
2oo2).
Die 1999 bei uns angelaufene multizentrische MCS-Studie (Leitung Dr. Eis), die
das Robert-Koch-Institut im Auftrag des Umweltbundesamts koordiniert, wird daran
nichts ändern. Nur 2 von 22 Untersuchern hatten klinische Erfahrung mit
MCS. 1/3 von ihnen sind Psychologen/Psychosomatiker, aber kein einziger Psychoneuroimmunologe
ist dabei. Entsprechend werden bevorzugt psychische Merkmale der Betroffenen
untersucht, während auf Hirnuntersuchungen verzichtet wurde (Müller
2oo1). Die einseitige Fragestellung wird voraussichtlich ähnlich einseitige
Ergebnisse produzieren.
Ashford N, Miller C, Chemical exposures. Low levels and high
stakes (2. Aufl.). Van Nostrand Reinhold, New York, 1998
ATSDR, Final report: Evaluating individuals reporting sensitivities to multiple
chemicals. ATSDR, Atlanta, 1996
Bell IR, White paper: Neuropsychiatric aspects of sensitivity to low-level chemicals:
a neural sensitization model. Toxicology Industrial Health, 4/5, 1994, 277-312
Cullen MR hg, Workers with multiple chemical sensitivities. Occupational Medicine:
State of the Art Reviews, 2, 1987, 655-8o6
Kang HK et al, 1998 prevalence of chronic fatigue syndrome among US Gulf War
veterans. Vortrag auf der 4. Internationalen AACFS-Konferenz zu CFIDS, Boston,
1998
Kreutzer R et al, The prevalence of people reporting sensitivities to chemicals
in a population based survey. American Journal of Epidemio-logy, 15o, 1999,
1-12
Lacour M et al, Multiple Chemical Sensitivity (MCS). Internist, 39, 1998
Lohmann K et al, Vielfache Chemikalienunverträglichkeit (Multiple Chemical
Sensitivity Disorder) bei Patienten mit neurotoxischen Gesundheitsstörungen.
Gesundheitswesen, 58, 1996
Maschewsky W, Handbuch Chemikalienunverträglichkeit (MCS). Medi-Verlag,
Hamburg, 1996
Maschewsky W, MCS - wissenschaftlicher, sozialer und politischer Stand. Arzt
& Umwelt, 1, 1998, 29-35
Maschewsky W, Psychisch gestört oder arbeitsbedingt erkrankt? MCS, Lösemittel-Syndrom
und Bk 1317. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, 1999a, 1-1o5
Maschewsky W, Risikoberufe für MCS. Jahrbuch Kritische Medizin, 31, 1999b,
72-86
Maschewsky W, Schätzung der MCS-Prävalenz. Zeitschrift für Umweltmedizin,
3, 2ooo, 166-172
Müller K, Was bringt die MCS-Studie der RKI? Zeitschrift für Umweltmedizin,
6, 2oo1, 358-59
NRC hg, Multiple chemical sensitivities - a workshop. National Academy Press,
Washington (D.C.), 1992
Rosenbrock R, Maschewsky W, Präventionspolitische Bewertungskontroversen
im Bereich Umwelt & Gesundheit. Wissenschaftszentrum Berlin, papers, 1998
Schiele BM, Eder-Stein I, Leben mit MCS. Betroffene berichten und raten. Selbstverlag
(ederstein@web.de), 2oo2