In einer Studie über Industriearbeit und Herzinfarkt am Wissenschaftszentrum Berlin (Friczewski et al 1987) zeigte sich ein zunächst paradoxes Ergebnis: infarktkranke Arbeiter waren in den Hochbelastungsbereichen eher selten, häuften sich aber auf sogenannten "Schon-" oder "Minderbelastungs-Arbeitsplätze", etwa bei Lagerarbeitern, Pförtnern, etc.
Wenn Minderbelastungs-Arbeitsplätze tatsächlich geringere Belastungen aufweisen, dann widersprach dieses Ergebnis einer Grundannahme der sozialwissenschaftlichen Herzinfarktforschung, nach der mit steigender Arbeitsbelastung auch das Herzinfarktrisiko steigt. Dieser Widerspruch ließ sich folgendermaßen auflösen:
Bei unserer Analyse (Maschewsky 1983) wurde deutlich, daß bei der Frage nach der Entstehung eines Infarkts die berufliche und betriebliche Mobilität beachtet werden muß. In den 1980er Jahren wurde üblicherweise angenommen, daß die zum Zeitpunkt des Infarkts vorliegenden Arbeitsbedingungen ihn wesentlich mitbedingen und im Laufe des Berufsleben meist konstant sind. Tatsächlich zeigte sich aber bei der Datenauswertung, daß
Umsetzungen und Ausgliederungen erzeugten anscheinend einen enormen Druck zur Anpassung an diese neuen Gegebenheiten, und konnten eine bereits "angeschlagene" Gesundheit endgültig überfordern. Dabei bestand hier offensichtlich ein doppelter Zusammenhang zwischen Abwärtsmobilität und Krankheit (Maschewsky 1981):
Herr Q., 1927 geboren, war (zum Zeitpunkt der Befragung 1982) Reservemann in einem Stahlwerk. Nach der Volksschule lernte er Förster, ging 1945 freiwillig zur Wehrmacht (nur wenige Wochen im Einsatz); danach zweieinhalb Jahre in der Landwirtschaft ("schwere Arbeit, miserabler Verdienst"); anderthalb Jahre lang Umschulung zum Maurer; erst arbeitslos, dann Jobben als Fahrer eines Heizkessels in einer Zuckerfabrik.
1950 Beginn der Arbeit im Stahlwerk. Zunächst Umstecker: Schwerstarbeit, Hitzebelastung, hohe Unfallgefahr, 48 Stunden Arbeitszeit im Dreischichtsystem, Spitzenverdienst. Seit 1957 für anderthalb Jahre Versetzung als Staffelmann an die Feinstraße: Hitze, Kontrolltätigkeit, im Bedarfsfall schwere und Hetzarbeit; Beginn eines Wirbelsäulenleidens. Danach Beförderung zum Walzmeister: kaum körperliche Belastung, vor allem Kontrolle und Verantwortung: zunehmend Bluthochdruck und Kreislaufbeschwerden: "so ein ständiges Schwindelgefühl; oft schwankte die ganze Schicht über der Boden unter mir!".
Nach 14 Jahren als Walzmeister Auflösung seiner Schicht, und Versetzung als Umbauer an die Universalmittelstraße: sehr starke körperliche und nervliche Belastung, Hetzarbeit, Hitze, Lärm; Entwicklung eines Gehörschadens, starke Zunahme der Rückenbeschwerden. Nach zwei Jahren auf sein Drängen vom Betriebsarzt von der Schicht heruntergenommen, und umgesetzt als Lokfahrer für den Blocktransport: hohe nervliche Belastung (die Blöcke sind innen noch flüssig), Hitze, extrem belastendes Vierschichtsystem.
Nach zweieinhalb Jahren wurde der Betrieb aufgelöst, und er wurde auf sein Drängen hin als Reservemann an die Universalmittelstraße zurückversetzt, wo er oft ganz allein die Walzstraße fahren mußte (hohe Unfall- und Schadensgefahr, enormer Lärm), da sein Vorgesetzter ihm sehr viel zutraute. Dies machte er zum Zeitpunkt des Interviews seit drei Jahren, und war schon 32 Jahre im Walzwerk. Er wollte versuchen, bald auf Rente zu kommen, da zu seinen bisherigen Leiden noch Diabetes hinzugekommen sei.
Berufliche Ausgliederung konnte sich in den 1980er Jahren in verschiedenen Risikobereichen zeigen (Dohse et al 1982), nämlich als Beschäftigungsverlust und Arbeitslosigkeit, Einkommensverlust, Entqualifizierung und Statusverlust, Mobilitätseinschränkung und Benachteiligung bei Umschulungen, Höherqualifizierungen, betrieblichem Aufstieg, etc.
Dabei gab es verschiedene Formen von Umsetzungen und Ausgliederungen, wie
Die von Umsetzung und Ausgliederung bedrohten Arbeitnehmer umfaßten auch die "beschäftigungspolitische Problemgruppe" der älteren Arbeitnehmer, die folgende Merkmale zeigt:
Betriebliche Umsetzungen und Ausgliederungen waren für die Betroffenen meist mindestens ambivalent:
Betriebliche Umsetzungen und Ausgliederungen hatten sich dabei in den 1980er Jahren verändert:
Herr B., 1931 geboren, war (zum Zeitpunkt der Befragung 1982) Bürohilfsarbeiter in einem Kohlebergwerk. Er kam mit 12 Jahren, nach dem Fall Königsbergs, mit seinem Vater (der beim Volkssturm war) und seiner Schwester in ein sowjetisches Gefangenenlager; seine vier Brüder waren alle gefallen, die Mutter verhungert. 1946 wurde er mit Vater und Schwester nach Mecklenburg entlassen. Aufgrund des Krieges hatte er nur vier Jahre Volksschule besucht. In Mecklenburg Lehre als Klempner und Installateur; dann Arbeit als Klempner bei der Warnow-Werft in Warnemünde; neun Monate im Auftrag der FDJ in den Uranbergbau bei Zwickau delegiert (dort Verpflegung und Verdienst hervorragend).
1950 Flucht nach Westberlin. Zunächst halbes Jahr Lager in Kladow. Für Klempnerarbeit in der Villa des Lagerleiters erhielt er den begehrten Flugschein nach Hamburg. In Hamburg arbeitslos; freiwillige Meldung zur Arbeit beim Bauern im Münsterland: harte Arbeit, miserabler Verdienst, Diskriminierung als einziger Protestant.
1952 Wechsel zu einer Isolierfirma, die bald Pleite machte. 1953 Beginn der Arbeit in der Zeche; um schnell Geld zu machen, nicht als Handwerker, sondern als Schlepper unter Tage. Nach zweieinhalb Jahren den Hauerbrief - "was kurz ist". Arbeit als Hauer von 1953 bis 1966, im Streckenvortrieb, Streb, etc. Viel gewechselt, selten feste Kolonnen, immer Wechselschicht.
Vom Salpeter und Salz bekam er nässende Ekzeme am ganzen Körper; starke Verunstaltung, oft deswegen krankgeschrieben - "aber sobald das Ekzem wieder trocken war, wurde man ruckzuck wieder gesundgeschrieben, nicht so wie heute", worauf das Ekzem sofort wieder auftrat. 1965 bescheinigte ihm die Knappschaft Untauglichkeit für Arbeiten unter Tage, gewährte aber keine Rente, da er nicht nur bergtechnisch, sondern auch handwerklich ausgebildet sei; saubere Arbeit als Handwerker sei zumutbar. Er wurde zur Wartung und Instandhaltung der Waschkauen (für 5000 Beschäftigte) eingeteilt, was ihm "ganz recht" war. Mittelohrentzündung und Ekzem verloren sich - außer den Narben -, dafür traten neu Rheuma und Gicht auf: schwere Arbeit, besonders bei Rohrbrüchen, in den niedrigen, oft heißen und feuchten Kriechkellern unter den Kauen. Dazu kamen nervliche Belastung durch die Verantwortung und den groben Umgangston: "der Bergbau ist hart, da regt man sich schnell auf, da sagen die schnell Arschloch zu einem". 1979 ein Herzinfarkt, danach ein Jahr lang krankgeschrieben.
Er wollte gerne weiterarbeiten, nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil ihm die Arbeit "Spaß" machte. Gegen den Rat seines Arztes ging er an seinen früheren Arbeitsplatz zurück, mußte aber nach wenigen Wochen wegen zunehmend häufigerer Schmerzen im Brustbereich wieder aufhören. Seit 1981 auf Fürsprache von Betriebsleitung und Betriebsrat hin Beschäftigung als Bürogehilfe im Arbeitsschutz: Karteien in Ordnung halten, Anweisungen ausschreiben, etc.
Diese waren seinerzeit in der Regel gering, weil die Arbeitnehmer - sofern die Möglichkeit bestand - ihre Gesundheitsschäden erst dann angaben, wenn sie aufgrund von Lebensalter oder Dauer der Betriebszugehörigkeit eine Besitzstandsicherung erworben hatten (z.B. ließen sich viele Bergarbeiter erst mit Erreichung der Unkündbarkeit ab 50. Geburtstag krankschreiben, dann aber oft für viele Monate). Besitzstandsicherung wurde offensichtlich, wenn möglich, dem Gesundheitserhalt vorgezogen.
Zwischen den Betrieben unterschieden sich die Regelungen der Besitzstandsicherung aber erheblich. Es war anzunehmen, daß sie nicht so optimal auf den betriebsspezifischen Gesundheitsverschleiß abgestimmt waren, um immer dann in Kraft treten, wenn der individuelle Gesundheitszustand dies zwingend erfordert.
In Betrieben bzw. Branchen, in denen keine Regelungen zur Besitzstandsicherung galten, oder diese im Normalfall nicht erreichbar waren, setzten oft bei ersten Anzeichen von Leistungsminderung oder Gesundheitsbeeinträchtigung Abwanderungen ein. Motiv war in der Regel die Arbeitsplatzsicherheit, nicht die Gesundheit. Die finanziellen Einbrüche waren aber meist gering, da der hier häufigen Qualifikationsentwertung folgende Tendenzen entgegenwirkten: die Wanderung erfolgt bevorzugt in Bereiche mit höherem Lohnniveau, oder mit zahlreichen Möglichkeiten, den Lohn aufzustocken (durch Schichtzulagen, Prämien, etc.).
Diese konnten sehr unterschiedlich sein. - Wurden innerbetriebliche Umsetzungen gesundheitlich begründet (ob zutreffend oder nicht), dann entfiel nach der Umsetzung meist die Schichtarbeit. Dies wirkte sich immer positiv auf Lebensqualität und Familienzusammenhalt aus. Wanderte der Arbeitnehmer dagegen aus Angst vor Arbeitslosigkeit in einen anderen Wirtschaftsbereich ab, mußte er hier oft erstmalig Schicht arbeiten - mit sich rasch abzeichnenden sozialen und gesundheitlichen Kosten.
Neben Veränderungen von Arbeitszeit und Verdienst wirkten sich vor allem folgende Veränderungen auf die allgemeine Lebenssituation aus: Status- und Prestigeverlust, Anforderungswechsel, Veränderung der Arbeitszufriedenheit und Selbstachtung und Gesundheitsveränderungen. Hier waren sehr verschiedenartige und auch gegenläufige Auswirkungen beobachtbar (Maschewsky/Halusa 1983).
Die umgesetzten/ausgegliederten Arbeiter haben vor allem Angst vor den Kollegen (z.B. diskriminierende Behandlung, Schikanen, Mobbing). Wegen dieser Befürchtungen wurden überfällige Umsetzungen und Ausgliederungen von den Betroffenen oft verschleppt. Tatsächlich waren diese Ängste aber häufig unbegründet, zumindest bei innerbetrieblichem Wechsel. Hier wurde die Umsetzung tendenziell als Endstation einer betrieblich vorgegebenen Entwicklung angesehen, auf die der Betroffene aufgrund der Dauer der Betriebszugehörigkeit, früher erbrachter Leistung und unvermeidlichem Gesundheitsverschleiß einen legitimen Anspruch hatte. Hier war Solidarität zwischen verschiedenen Generationen von Arbeitnehmern zu beobachten.
Anders bei zwischenbetrieblichem Wechsel. Die Angehörigen des neuen Betriebs, in den gesundheitlich beeinträchtigte und leistungsgeminderte Arbeitnehmer abwanderten, hatten oft ganz andere Berufswege und Belastungserfahrungen. Daher fehlte ihnen ein Verständnis (oder die Bereitschaft dazu) aufgrund eigener Erfahrungen oder absehbarer eigener Betroffenheit. Die Minderbelastbarkeit der zugewanderten Arbeitnehmer wurde schnell als persönliches Versagen interpretiert. Hier habe man es mit "menschlichem Schrott" zu tun - entsprechend das Verhalten.
Hier ließen sich drei Regelungstypen unterscheiden. - Beim ersten Typ erfolgte die innerbetriebliche Umsetzung erst bei Erfüllung der Voraussetzungen der Besitzstandsicherung, aber dann nach medizinischen Gesichtspunkten. Beispiel war etwa der Kohlenbergbau. Hier wurde die Umsetzung erst dann veranlaßt, wenn die Besitzstandsicherung garantiert war; begründet wurde die Umsetzung aber gesundheitlich. Da nach der Umsetzung oft sehr lange Krankschreibungen erfolgten, läßt sich folgern, daß viele Gesundheitsschäden lange erduldet und verheimlicht wurden, um Arbeitsplatz und Besitzstand nicht zu gefährden. - Bei diesem Regelungstyp war die Art der Umsetzung sehr genau geregelt und enthielt kaum Spielraum. Die gesundheitlichen Folgen waren meist positiv: zum einen entfiel die oft extrem belastende frühere Tätigkeit; zum anderen war die neue Tätigkeit wenig belastend, und wurde sozial abgepuffert durch ein kollektives Verständnis, daß sie den gerechten Ausgleich für frühere "Schinderei" darstelle; schließlich galten in solchen Erwerbsbereichen oft selbst massive körperliche und seelische Beeinträchtigungen als relativ normal und daher "nicht der Rede wert".
Beim zweiten Typ erfolgte die innerbetriebliche Umsetzung ebenfalls bei Erfüllung der Voraussetzungen der Besitzstandsicherung, aber nach einem unterschiedlich gestaltbaren Verfahren, nach teils gesundheitlichen, vor allem aber personal- und sozialpolitischen Gesichtspunkten. Beispiel war die Stahlindustrie. Der Betroffene konnte die Umsetzung veranlassen (bei Erfüllung der Besitzstandsicherung), aber auch der Arbeitgeber (bei absatz- oder rationalisierungsbedingtem Belegschaftsabbau). Die konkrete Gestaltung war sehr vielgestaltig und weitmaschig, mit dem Effekt, daß die gesundheitlichen Folgen oft negativ waren, und die Betroffenen oft unsicherer und unzufriedener, weil sie keinen präzisen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Art der Umsetzung hatten, mit der Folge von erheblicher Willkür.
Beim dritten Typ erfolgte die Umsetzung zwischenbetrieblich, ohne Erfüllung der Voraussetzungen von Besitzstandsicherung, meist aus gesundheitlichen, Arbeitsmarkt- oder Alterssicherungsgründen. Beispiel war der Öffentliche Dienst; z.B. die Abwanderung eines Maurerpoliers vom Bau zu einer Senatsdienststelle und dort Neuanfang als Pförtner. Hier lag keinerlei soziale und gesundheitliche Regelung für den Übergang vor. Initiative und Risiko lagen ausschließlich bei den Betroffenen. Aufgrund meist mangelhafter Information über verschiedene Arbeitsplätze und der dort auftretenden Gesundheits- und Arbeitsbelastungen, kamen die Betroffenen hier oft "vom Regen in die Traufe", denn