Nervenschäden durch Arbeitsstoffe



Problem

Nervenschäden durch Arbeitsstoffe wurden in Deutschland ab etwa 1880 viel diskutiert (z.B. Benzin-, Xylol-Vergiftung). Mit der NS-Machtergreifung wurde diese arbeitsmedizinische Tradition zerstört. In der BRD waren arbeitsbedingte Nervenschäden zunächst kein Thema, außer Blei-Vergiftung. Hinweise auf die in Dänemark seit 1976 als Berufskrankheit anerkannte "Malerkrankheit" und eine Mini-Epidemie von Todesfällen durch Klebstoff-"Schnüffeln" Anfang der 1980er Jahre haben dann auch hier eine entsprechende Diskussion in Gang gesetzt.


Krankheitsbild

Akute Wirkungen von nervenschädigenden Stoffen sind z.B. Erregung, Rausch, Verwirrtheit, Müdigkeit und Bewußtlosigkeit. Die chronischen Wirkungen unterscheiden sich nach dem Angriffspunkt im Nervensystem:

  • peripher-nervös: Sinnes- und Bewegungsstörungen; Polyneuropathien;
  • zentral-nervös: Denk-, Erinnerungs-, Gefühls-, Motivations- und Persönlichkeitsstörungen; Enzepalopathien und Demenzen;
  • vegetativ-nervös: Schlaf-, Schweißsekretions-, Sexualstörungen, etc.

Nervenschäden durch Arbeitsstoffe sind vielgestaltig, aber oft stoffunspezifisch. Sie werden in drei Schweregrade eingeteilt:

  • I: unspezifische Befindlichkeitsstörung (starke Müdigkeit, erhöhte Reizbarkeit, Antriebs-, Erinnerungs- und Konzentrationsschwäche, Kopfschmerzen); Diagnosen: pseudoneurasthenisches Syndrom, Hirnleistungsschwäche, leichtes organisches Psychosyndrom;
  • IIa: wie I, aber stärker ausgeprägt;
  • IIb: wie I, aber stärker ausgeprägt; zusätzlich Zittern, Koordinations- und Bewegungsstörungen, Anzeichen einer Polyneuropathie (Kribbeln, Empfindungslosigkeit, Muskelschwäche, Lähmungen in Armen und Beinen);
  • III: Demenz (Hirnleistungsschwäche) mit starken Wahrnehmungs-, Denk- und Gedächtnisstörungen.

Beispiel

Ein Spritzlackierer, der 25 Jahre lang in unterschiedlichen Betrieben als "Angelernter" eingesetzt wurde. Seine Tätigkeit bestand vor allem im Lackieren von Metallteilen, die zuvor mit Lösemitteln gereinigt und entfettet wurden. Lackiert wurde mit Spritzpistole in einer Spritzkabine, die anfangs keine Absaugung hatte. Vom Arbeitgeber wurden nur Masken mit Watteeinsätzen zur Verfügung gestellt, die zwei- bis dreimal täglich gewechselt wurden. Elf Jahre lang arbeitete er täglich acht bis zehn Stunden in der Spritzkabine.

Wegen zunehmender Leistungseinschränkung und mehrfacher langer Krankheit wurde eine Erwerbsminderungsrente beantragt. Ein Neurologe vermutete eine Berufskrankheit durch Lösemittel und stellte bei der Berufsgenossenschaft eine entsprechende Verdachtsanzeige. Das Anerkennungsverfahren dauerte sieben Jahre, in denen sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechterte. Der von der BG beauftragte Gutachter kam nach vielen Untersuchungen zum Ergebnis, daß eine lösemittel-bedingte Enzephalopathie ohne Polyneuropathie vorliege und bescheinigte ihm eine Erwerbsminderung von 20 %. Die BG schloß sich dem an.


Auslöser

Nervenschädigend (neurotoxisch) wirken viele Tier- und Pflanzengifte, Genußstoffe, Rauschmittel und Medikamente. Die Nervenschädigung ist meist nur eine von mehreren Wirkungen, z.B. neben der krebserzeugenden Wirkung bei Benzol, der blutdrucksteigernden Wirkung bei Blei. Zudem hängt die Wirkung von der Dosis ab.

Nervenschädigend wirken auch Arbeitsstoffe und Umweltchemikalien. Dies gilt für Einzelstoffe, wie Akrylamid oder Formaldehyd, aber auch viele Stoffgruppen, wie organische Lösemittel, Pestizide, Holzschutzmittel, einige Metalle. Davon sind mehrere Berufsgruppen stark betroffen, z.B.

  • Maler/Lackierer, Drucker, KfZ-Berufe (Lösemittel);
  • Landwirte, Gärtner, Dreher (Pestizide/Biozide);
  • Schweißer, Galvaniseure, Zahntechniker (Metalle).

Daneben sind auch Verbraucher/Konsumenten im Einzelfall stark exponiert, etwa gegenüber Formaldehyd, Holzschutzmitteln, Pestiziden, Amalgam. Insbesondere bei einer entsprechenden - angeborenen oder erworbenen - Veranlagung kann auch diese Exposition zum Gesundheitsrisiko werden.

Organische Lösemittel sind Flüssigkeiten, die feste, flüssige oder gasförmige Stoffe lösen; sie wirken entfettend, auch auf Nervengewebe, was dessen Funktion stört. Das Lösemittel-Syndrom (LMS) ist inzwischen die wichtigste Variante einer arbeitsstoff-bedingten Nervenschädigung. Die akuten und chronischen Wirkungen können sich - je nach Stoff, Dosierung, Wirkungsphase und Wirkungsdauer - unterscheiden.


Diagnoseprobleme

Vermeidung und Entschädigung arbeitsstoff-bedingter Nervenschäden sind teuer, was die zögerliche Anerkennung miterklärt. Auch inhaltliche und methodische Gründe sprechen dagegen:

  • Arbeitsstoffe haben meist mehrere Wirkungen;
  • viele Arbeitsstoffe schädigen die Nerven; dies tun aber auch viele Genußstoffe und einige Umweltchemikalien;
  • meist wirken mehrere Arbeitsstoffe gleichzeitig;
  • die Exposition läßt sich nur schwer bestimmen, besonders bei chronischer Exposition und niedriger Dosierung;
  • die Krankheit läßt sich nur schwer bestimmen, da Wirkungen oft unspezifisch sind;
  • bei niedriger Dosierung bleiben Wirkungen lange verdeckt;
  • die Wirkungen ähneln denen bei "natürlichem Altersabbau" und Alkoholmißbrauch, erlauben daher eine Umdeutung;
  • die Wirkungen sind nicht bei allen Exponierten gleich, sondern variieren nach Alter, Gesundheitszustand, anderen Belastungen, etc.;
  • die Wirkungen sind oft scheinbar reversibel, da eingetretene Wirkungen sich zunächst kompensieren lassen.

Folge: Entweder lassen Betroffene oder Ärzte die Nervenschäden unbeachtet und ordnen sie dem gewohnten "Hintergrundrauschen" von Befindlichkeitsstörungen zu. Oder die Nervenschäden werden zwar untersucht, aber mit Annahmen, die eine Schadstoffexposition wenig berücksichtigen. Verbreitet sind drei Thesen:

  • die Störungen sind verhaltensbedingt, etwa durch Alkohol, Medikamente, "Freizeit-Streß";
  • da nicht alle Exponierten erkranken, ist die Erkrankung nicht auf zu große Belastung, sondern zu geringe Belastbarkeit zurückzuführen;
  • es handelt sich nicht um stofflich bedingte, sondern um psychosomatische oder psychiatrische Gesundheitsprobleme (Psychiatrisierung).

Dieselbe Gesundheitsstörung läßt sich oft gleichermaßen als LMS oder MCS diagnostizieren. Die sozialrechtlichen Konsequenzen sind aber sehr unterschiedlich. Das LMS ist inzwischen, vom Prinzip her, als Berufskrankheit anerkannt, die MCS dagegen nicht. Ein Arbeitnehmer mit Lösemittel-Exposition, Polyneuropathie- oder Enzephalopathie-Symptomen hat eventuell eine Chance, dies von der Berufsgenossenschaft als Bk 1317 anerkannt und entschädigt zu bekommen - aber nicht, wenn die Diagnose MCS lautet.


Anerkennung als Berufskrankheit

Lange Zeit wurde das LMS durch die Berufskrankheiten-Verordnung nur indirekt erfaßt, was die Zahl der Anerkennungen und Entschädigungen sehr niedrig hielt. Nach hartnäckigem Widerstand vieler Arbeitsmediziner ist das LMS - mit 20 Jahren Verspätung gegenüber Dänemark - seit 1997 als neue Berufskrankheit anerkannt (Bk 1317: Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische). Eine Entschädigung des LMS wird aber oft unterlaufen durch extrem seltene Anerkennung, und wenn doch, vorzugsweise in untypischen Berufen; durch Nichtanerkennung bei Unterschreitung sehr hoch angesetzter Dosisjahre oder bei bleibenden Schäden; durch Anerkennung mit nur minimaler Erwerbsminderung, die keine Entschädigung begründet.


Literatur

  • Binz P, "Nun sind ja alle tot" - die Verlängerung des Leidenswegs durch den Rechtsweg. In: Bultmann A hg, Vergiftet und alleingelassen. Die Opfer von Giftstoffen in den Mühlen von Wissenschaft und Justiz. Knaur, München, 1996, 197-218
  • Frentzel-Beyme R, Domizlaff I, Studie über die Epidemiologie lösemittel-bedingter Erkrankungen. Erich Schmidt, Berlin, 1995
  • Gregersen P, Hansen T, Organic solvents. Miljøministeriet, Miljøprojekt nr 72, Kopenhagen, 1986
  • Maschewsky W, Nervenschädigung am Arbeitsplatz. Edition Sigma, Westberlin, 1988
  • Maschewsky W, Psychosomatisch oder neurotoxisch? Jahrbuch Kritische Medizin, 13, 1988, 154-164
  • Maschewsky W, Psychisch gestört oder arbeitsbedingt krank? Mehrfache Chemikalienunverträglichkeit (MCS), Lösemittel-Syndrom und Bk 1317. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, 1999
  • Mikkelsen S et al, Mixed solvent exposure and organic brain damage. Acta Neurologica Scandinavica, 78 (suppl), 1988
  • Singer RM, Neurotoxicology guidebook. Van Nostrand Reinhold, New York, 1990
  • Triebig G hg, Erlanger Malerstudie. Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Präventivmedizin, Sonderheft 9, 1986
  • WHO/Nordic Council of Ministers hg, Organic solvents and the central nervous system. WHO, Kopenhagen, 1985


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