Mit sozialempirischen Forschungsmethoden befaßte ich mich vor allem (a) während meiner Lehrtätigkeit zu Empirie/Statistik an der FU (1972-77); (b) im Rahmen der empirischen Herzinfarkt-Studie am WZB (1977-84); (c) in der empirischen MCS-Studie (1997-98); (d) in der empirischen Umweltgerechtigkeits-Studie (2001-3).
Die nachfolgenden Überlegungen stammen vor allem aus den Phasen (a) und (b).
Methodologische Konzepte und methodische Techniken der Psychologie überschneiden sich teilweise mit entsprechenden Konzepten und Techniken bestimmter Sozialwissenschaften (z.B. Soziologie - empirische Sozialforschung), Biowissenschaften (z.B. Sozialmedizin/Gesundheitswissenschaft - Epidemiologie) und Naturwissenschaften (z.B. Physik - Laborforschung). Daher können methodologische und methodische Diskussionen der Psychologie auch für andere Wissenschaften von Interesse sein, und umgekehrt.
Die sozialwissenschaftliche Methodendebatte, die - verstärkt durch die Studentenbewegung - ab Mitte der 1960er Jahre in Westdeutschland geführt wurde (sog. "Positivismusstreit in der Soziologie") wirkte auch in die Psychologie hinein. Dies erfolgte aber an spezifischen Themen, wie "qualitative" vs. "quantitative Forschung", "Labor-" vs. "Feldforschung", "Kontrolle" vs. "Repräsentanz", "interne" vs. "externe Validität", "parametrische" vs. "nicht-parametrische" Statistik, etc. Die von Klaus Holzkamp initiierte "Kritische Psychologie" spielte für diese Methodendebatte eine wichtige Rolle - vor allem für die Wahrnehmung methodologischer Probleme, weniger für deren Lösung.
Die sog. "wissenschaftliche Psychologie" verstand sich - im Gegensatz zu Psychotherapie, psychologischer Beratung, etc. - anfangs als Naturwissenschaft, und orientierte sich methodisch an der Physik und deren Bevorzugung des Experiments als wesentlichem Erkenntniszugang. Die daraus abgeleitete Experimentalpsychologie - mit strengen Regeln, angenommener Kontrolle aller relevanten Bedingungen - lieferte jedoch meist Befunde, die in der Praxis nicht anwendbar waren, nicht "trugen". Daher geriet diese Forschung zunehmend in die Kritik.
Die psychologische Methodenlehre betrachtete aber tendenziell nicht-experimentelle Formen der Datenerhebung (z.B. Beobachtung, Befragung) als methodisch und methodologisch nicht streng normierbar. Daher wurde in der Praxis oft nach Gutdünken, Faustregeln, nicht hinterfragten Konventionen, "Fehlertheorien" und "Kunstlehren" verfahren. Folge: viele widersprüchliche Vorgehensweisen und Ergebnissen; eine enorme, meist uneingestandene, Methodenabhängigkeit der Ergebnisse.
Angesichts des Rigorismus der statistischen Auswertung (s.u.) wirkte die methodische Beliebigkeit der Erhebung paradox. Sie betraf nicht nur die konkreten Erhebungstechniken (Beobachtung, Befragung, Experiment), sondern auch das allgemeinere methodologische Konzept - also: Problemzuschnitt, Erklärungsmodell, Hypothesen, Untersuchungsdesign, Variablenwahl, Operationalisierung, Stichprobenwahl, Meßkonzept, Art der Ergebnisdarstellung, Wahl der statistischen Prüfverfahren, interpretativer Bezugsrahmen, Vergleichsgrößen, Artefakt-Suche, Umgang mit hypothesen-abweichenden Befunden, Abbruchpunkte der Erklärung, etc.
Die Datenauswertung fand mehr Beachtung, wurde aber weitgehend auf statistische Auswertung reduziert. Das war unangemessen:
Die inzwischen hoch-differenzierte statistische Methodik - von der zum jeweiligen Betrachtungszeitpunkt immer nur Teile, gemäß "statistischen Moden", genutzt werden - erschien dagegen merkwürdig kritik-immun. Dies beruht sowohl auf Schwierigkeiten ihrer Rezeption für Nicht-Statistiker, aber auch auf der oft fehlenden Explizierung ihrer impliziten Modellannahmen. Dabei ist anzunehmen, daß lineare Abbildungs- und Prüfmodelle der Statistik dem psychischen Prozeß vermutlich wenig gerecht werden; oder daß die statistische Ergebnisdarstellung reale Ereignisse als notwendig interpretiert, daher Handlungs- und Gestaltungsspielräume nicht identifiziert; etc.
Versuchsanordnungen (Studien-Designs) der psychologischen Grundlagenforschung sind meist durch "methodologischen Reduktionismus" gekennzeichnet. Implizites Ziel ist die Entsubjektivierung der Subjekte und Aufspaltung von Systemzusammenhängen - was nie wirklich erreicht wird. Folge: hoch-differenzierte Ergebnisse, die aber schon bei kleinen Änderungen der Eingangsparameter variieren können, und daher kaum verallgemeinerbar, replizierbar und anwendbar sind (was Holzkamp in der "Kritischen Psychologie" kenntnisreich kritisierte). Der Reduktionismus drückt sich in der Betonung von quantitativer gegenüber qualitativer, Labor- gegenüber Feld-, Ergebnis- gegenüber Prozeßforschung aus.
Das Methodenrepertoire anderer Wissenschaften, etwa der Sozialwissenschaften, war in der Psychologie kaum bekannt. Dies betraf
Analog zu verschiedenen Arten von Theorien lassen sich verschiedene Arten von Gegenstandskonzepten unterscheiden: reduktionistische, aggregative und systemhafte Gegenstandskonzepte.
Gemäß reduktionistischen Konzepten wird ihr Gegenstand durch wenige Merkmale bzw. Bedingungen bestimmt, die in wenigen einfachen, meist streng deterministischen Beziehungen zueinander und den Umweltgegebenheiten stehen.
Aggregative Konzepte sehen ihren Gegenstand als Resultat des gleichzeitigen Bestehens (der Überlagerung) zahlreicher unabhängiger Merkmale. Die innere Beziehung dieser Merkmale wird nicht analysiert, sondern sie werden als verschieden, aber gleichwertig betrachtet. Die resultierenden Gesetzmäßigkeiten sind aufgrund der Vielzahl überlagernder Merkmale meist stochastisch.
Systemhafte Konzepte nehmen ebenfalls zahlreiche überlagernde Merkmale an, die aber nicht unabhängig voneinander sind. Stattdessen werden die verschiedenen Merkmale in einem komplexen Wirkungsgefüge aufeinander bezogen, das in Subsysteme und Regulationsebenen gegliedert ist, zwischen denen Wechselwirkungen und Rückkopplungen bestehen.
Systemverhalten ist nicht mehr bloße Resultante von Einzelprozessen, sondern aufgrund der "Vermaschtheit" verschiedener Prozesse kann das System ganzheitlich und zielgerichtet agieren und Identität, Stabilität und Autonomie trotz variierender innerer und äußerer Zustände bewahren. Gesetzmäßigkeiten sind hier weder deterministische noch stochastische Beziehungen zwischen Determinanten, sondern eher Aussagen über "Substituierbarkeit" bzw. "funktionale Äquivalenz" von Prozessen; über Toleranzbereiche von Bedingungsvariationen, innerhalb derer das System Stabilität bewahrt - also auch über Handlungsspielräume; über die Bedeutsamkeit einzelner Variablen und Prozesse im Systemzusammenhang; über Voraussetzungen und Mechanismen einer Zielerreichung; über das Systemverhalten in der Zeit; etc.
Solche Gegenstandskonzepte wurden seit den 1970er Jahren - mit der Verbreitung system-theoretischer Überlegungen - zur erkenntnistheoretischen Prämisse einiger Richtungen der theoretischen Psychologie:
"Die psychischen Erscheinungen sind außerordentlich variantenreich und nicht durch äußerliche Wiederholbarkeit und Stabilität gekennzeichnet. Die bei psychischen Prozessen unbedeutende Rolle der Abhängigkeiten auf empirischer Ebene ermöglicht es dem Wissenschaftler kaum, sich auf elementare empirische Gesetzmäßigkeiten zu stützen, die es erlauben, sich den Gesetzmäßigkeiten höheren Niveaus schrittweise zu nähern. Kein einziger psychischer Prozeß ist unabhängig ....
Jeder Prozeß trägt in sich Züge und Eigenheiten einer ganzen Reihe von größeren funktionalen Systemen und Gebilden, in die er eingeht ... Eine andere Besonderheit der psychischen Prozesse ... besteht in ihrer Ganzheitlichkeit. Die Möglichkeiten ihrer materiellen und funktionellen Trennung, ihrer Isolierung in Zeit und Raum sind eng begrenzt ...
Diese tiefe organische Einheit, die Unteilbarkeit und gegenseitige Durchdringung der Prozesse ist ein prinzipiell wichtiger spezifischer Zug des Psychischen, der die wesentlichen methodischen und methodologischen Besonderheiten der psychologischen Forschung bestimmt ...Die Vorstellung von psychologischen Gesetzmäßigkeiten als eindeutigen Zusammenhängen einzelner Faktoren widerspricht der ganzheitlichen vielschichtigen Struktur des Psychischen und ist grundsätzlich falsch." (Iwanowa/Assejew 1974, 180 ff)
Diese Überlegungen blieben aber m.W. reine Erkenntnistheorie, denen keine Handlungs- und Forschungspraxis direkt entsprach.
Bei quantitativer Sozialforschung entsprechen reduktionistischen Gegenstandskonzepten wenig-variate, rekursive, linear-additive Kausalmodelle; erwartet werden relativ unbeeinflußbarer und daher verallgemeinerbarer Gesetzmäßigkeiten; die sich entsprechend erfassen lassen mit wenig-variaten Untersuchungsdesigns; die sich abbilden/prüfen lassen mit wenig-variaten, mit wenigen Parametern und einfachen Variablenverknüpfungen operierenden statistischen Modellen.
Aggregativen Gegenstandskonzepten entsprechen multifaktorielle (aber rekursive, linear-additive) Kausalmodelle, mit der Erwartung multipel determinierter (je nach Konstellation quantitativ variierender) Gesetzmäßigkeiten. Zur Erfassung eignen sich multifaktorielle Untersuchungsdesigns, zur Abbildung/Prüfung multivariate statistische Modelle.
Systemhaften Gegenstandskonzepten entspricht kein ähnlich spezifisches Methodeninstrumentarium. Einerseits sind die Kausalmodelle viel komplexer (Multikollinearität, zirkuläre Kausalität, Zeitabhängigkeit). Andererseits bestehen auch andere Ergebniserwartungen: statt bloßer Input-Output-Relationen werden zusätzlich angestrebt
Es stellt sich die Frage, ob solche, einen "Systemcharakter" des Gegenstands abbildende Ergebnisse mit traditioneller quantitativer Sozialforschung erzielbar sind. Oder bleiben Lücken bestehen, so daß der theoretisch angenommene Systemcharakter des Gegenstands methodisch nicht einlösbar ist - oder die Entwicklung einer neuartigen, angemesseneren Methodik erfordert?
Eine systemtheoretischen Gegenstandskonzepten angemessene "Systemmethode" hat sich m.W. bisher nicht entwickelt. Zwar gab bzw. gibt es einen "Boom" sog. "partizipativer" Forschungsansätze, ............
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"Kritische Sozialwissenschaft" - außerhalb des theoretischen und politischen "Mainstreams" - hat meist das Problem, daß ihre Fragestellungen, Hypothesen, Vorgehensweisen den öffentlichen und privaten Institutionen der Forschungsförderung aus verschiedenen Gründen nicht gefallen, bzw. als "nicht forschungswürdig" erscheinen: zu abwegig, zu kritisch, nicht politik-kompatibel, etc. D.h.: die geplanten "kritischen Studien" werden direkt abgelehnt, oder mit vielen, tendenziell unerfüllbaren Auflagen versehen und somit verschleppt.
Die Initiatoren solcher Forschungsanträge stehen also vor einem Dilemma: entweder geben sie auf; oder sie fügen sich der inhaltlichen und/oder politischen Zensur, und hoffen, die Auflagen irgendwann erfüllen zu können; oder sie versuchen, das Forschungsvorhaben so "abzuspecken", daß sie mit geringerer Förderung, Eigenmitteln oder ganz ohne Geld auskommen.
Steht in einem solchen Fall wenig Geld zur Verfügung, spricht man von "low-budget research"; ganz ohne Geld entsprechend von "no-budget research". "Low-/no-budget research" hat nicht nur negative Seiten - schlichte Designs, geringe Fallzahl; dadurch angreifbar als "übersimplifiziert", "statistisch nicht abgesichert" -, sondern auch einen eigenen "Charme": geringe/keine Zensur und mehr Handlungsfreiraum bei Planung, Durchführung, Auswertung der Studie und Interpretation der Ergebnisse.